Risikomanagement

Die Polykrise managen

 

Die Welt ist in den vergangenen drei Jahren nicht nur unübersichtlicher geworden, sondern auch gefährlicher. Deswegen sprechen Experten inzwischen von einer Polykrise, die sich aus Krieg und geopolitischen Spannungen, Inflation, dem Klimawandel sowie den Folgen der Pandemie zusammensetzt. Um in dieser Lage handlungsfähig zu bleiben, brauchen Unternehmen ein digital gestütztes Risikomanagement, wie unsere aktuelle Risikomanagementstudie zeigt.

Ende letzten Jahres war Versorgungssicherheit das dominierende Thema in Einkaufsteams. Mit 77 Prozent lag diese deutlich vor den Preisrisiken (66 Prozent) – und das, obwohl die hohe Inflation und die massiv gestiegenen Einkaufspreise die große Herausforderung des vergangenen Jahres waren. Allerdings litten trotz der relativen Entspannung in den Lieferketten immer noch fast drei Viertel der Studienteilnehmenden unter Störungen und Engpässen.

 

Größeres Lager schlägt Nearshoring

Die Qualifikation zusätzlicher Lieferanten und der Aufbau zusätzlicher Lagerkapazitäten sind die Mittel der Wahl, um Versorgungsrisiken einzudämmen. 71 beziehungsweise 62 Prozent der Befragten wählten diese Lösungen. Für eine engere Kooperation in der Lieferkette entschieden sich mit 56 Prozent immerhin mehr als die Hälfte, während nur wenige Unternehmen Materialien substituierten oder gezielt neue Lieferanten in ihrer Heimatregion suchten. Substitution und Nearshoring sind zweifellos komplexere Lösungen, die mehr Zeit brauchen, als das Lager aufzufüllen. Angesichts zunehmender geopolitischer und regulatorischer Risiken sowie Unwägbarkeiten für die Verfügbarkeit und Preisentwicklung bei Rohstoffen sollten Unternehmen diese Optionen aber  in Erwägung ziehen.

Unternehmen können sich heute nicht mehr darauf verlassen, dass das Vertrauen in den freien Handel und die globale Arbeitsteilung weiterhin die wichtigste Orientierung für die politisch Handelnden bleibt. Zunehmend greift die Politik in die Märkte ein – sei es durch Maßnahmen wie Strafzölle oder Einfuhrverbote, sei es durch Gesetze und Regulierungen, um Umweltschutz und  Menschenrechte durchzusetzen. Gerade westliche Staaten locken dazu noch mit attraktiven Subventionspaketen, um Investitionsentscheidungen in die politisch gewünschte Richtung zu lenken. Eine wachsende Zahl an Handelsabkommen rund um den Globus sortiert den Welthandel neu und in politisch erwünschte und weniger erwünschte Verbindungen. Zudem bestehen, wie der  Ukraine-Krieg zeigt, Risiken, dass eine zunehmend aggressivere Rhetorik autokratischer Regime in offen geführte Auseinandersetzungen mündet.

 

Vorbereitet sein

Um nicht wieder von einer Entwicklung überrascht zu werden und dann kurzfristig Lösungen suchen zu müssen, sollte das klassische Risikomanagement um die Komponente Politik  erweitert werden, denn Handelsabkommen, Sanktionen und Gesetzgebungen können einen enormen Einfluss auf die Lieferketten haben. Entscheider:innen sollten diese Gesetzgebungsverfahren im Hinblick auf ESG-Kriterien sowie geopolitische Konflikte daher sehr genau verfolgen und die Risiken für die eigene Lieferkette mit Hilfe geeigneter Tools abschätzen.

Entscheidend ist zu handeln, bevor ein Risiko eintritt, etwa indem Lieferanten aus anderen Weltregionen qualifiziert oder nachhaltige Alternativen zu ökologisch bedenklichen Materialien  getestet werden. Unsere Lieferketten waren maximal effizient und brauchten auf Geopolitik nur wenig Rücksicht zu nehmen, da viele Staaten den freien Welthandel förderten. In der  unberechenbarer gewordenen Welt von heute gilt es, bewusst Redundanzen zur Absicherung einzuführen und vermeintliche Ineffizienzen in Kauf zu nehmen, um jederzeit handlungsfähig  zu bleiben.

Klar machen sollten sich alle Beteiligten, dass Risikomanagement keine einmalige Aufgabe, sondern ein kontinuierlicher Prozess ist.

 

 

Digitales Risikomanagement entwickelt sich weiter

Die wachsenden Anforderungen an das Risikomanagement für Einkauf und Lieferketten lassen sich nicht mehr manuell erfüllen. Daher investieren Unternehmen verstärkt in digitale Lösungen. Unsere jährliche Risikomanagementstudie zeigt einen wachsenden Anteil derer, die digitale Lösungen für ihr Monitoring intensiv nutzen. Im Vergleich zum Vorjahr stieg dieser von 17 auf 29 Prozent, während die Gruppe der Nicht-Digitalen relativ konstant bei etwa 25 Prozent liegt. Wer also einmal mit der Digitalisierung beginnt, lässt sich offensichtlich schnell vom Nutzen der Tools überzeugen und investiert weiter.

Egal, ob Unternehmen vorhandene Lösungen erweitern oder neu ins digitale Risikomanagement einsteigen: Wichtig ist, dass alle Tools und Aktivitäten vernetzt zusammengeführt werden. Unternehmen sollten dazu einen IT-gestützten Risk-Control-Tower einrichten, der alle relevanten Kennzahlen und Informationen bündelt, mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz und Advanced Analytics in Echtzeit auswertet und mit Hilfe von Grafiken veranschaulicht.

 

 

/ Erfassen und bewerten Sie Risiken systematisch?

 

  • 12%: Keine Aussage möglich
  • 56%: Ja
  • 32%: Nein

 

 

/ Nutzen Sie digitale Tools zur systematischen Erfassung und Bewertung von Risiken?

 

2021
: 17%
: 57%
: 26%
2022
: 29%
: 47%
: 24%

 

 

Quelle: INVERTO Risikomanagement-Studie

 

Crossfunktional agieren, Lieferanten einbinden

Risikomanagement ist eine funktionsübergreifende Aufgabe. Der Einkauf sollte die Risikoanalyse und -bewertung gemeinsam mit Kolleg:innen aus Finance, Produktion, Sales und der Rechtsabteilung realisieren. Diese Abteilungen und die Geschäftsführung sollten auch Zugriff auf den Risk-Control -Tower erhalten und Echtzeit-Warnungen zu Risiken bekommen, damit Gefahrenpotenziale aus verschiedenen Blickwinkeln wahrgenommen und identifiziert werden können. So gelingt eine echte End-to-End-Betrachtung, bei der nicht nur Supply Chain und Compliance-Risiken beobachtet werden, sondern auch Preisrisiken. In der aktuellen Situation mit volatilen Preisen und hoher Inflation kann das Sales-Team dadurch die Preise angemessen gestalten und gegenüber den Kunden vertreten.

Klar machen sollten sich alle Beteiligten, dass Risikomanagement keine einmalige Aufgabe, sondern ein kontinuierlicher Prozess ist. Ständige Beobachtung und Weiterentwicklung gehören ebenso dazu wie gemeinsames Abwägen und Entscheiden, wenn der Control-Tower Störungen signalisiert.

Um schnell reagieren zu können, sollten im Rahmen des Risikomanagementprozesses sowohl kurz- als auch langfristige Maßnahmen für den Umgang mit Einkaufsrisiken definiert werden. Für die größten Risiken benötigen Unternehmen darüber hinaus ein Frühwarnsystem und Sofortmaßnahmen – um dies leisten zu können, muss der Control-Tower entsprechend programmiert sein. Die aktuelle Situation der Polykrise bedeutet allerdings auch, dass sich die Bewertung dessen, was die größten Risiken sind, schnell ändern kann. Die funktionsübergreifenden Teams sollten daher regelmäßige Reviews einplanen und bei besonderen Ereignissen auch außerhalb des geplanten Turnus zusammenkommen. //

 

/ Der Risikomanagement-Prozess

 

Risiko-Identifikation

Identifikation aller potenziellen Ereignisse, die außer Plan laufen könnten und einen bedeutsamen Einfluss auf Kosten, Versorgungssicherheit oder Qualität haben

Risikobewertung

Bewertung der Eintrittswahrscheinlichkeiten von Ereignissen und Abschätzung möglicher Auswirkungen auf die Unternehmensperformance

Risikosteuerung

Anwendung von Strategien, um Risiken beherrschbar zu machen: Risikovermeidung, Risikoeingehung, Risikoverteilung, Risikoübertragung

Risikomonitoring

Kontinuierliche Beobachtung aller Risiken und Definition angemessener  Maßnahmen für den Fall, dass ein Risiko eintritt. Einrichten eines Risk-Control- Towers, um schnell agieren zu können

 

 

FAZIT

Angesichts der steigenden Komplexität der Krisen ist heute nicht mehr die Frage, ob Unternehmen in digitales Risikomanagement investieren, sondern in welchem Umfang und mit welchen  Tools. Entscheider:innen im Einkauf sollten sich aber darüber im Klaren sein, dass Digitalisierung weder die Bewertung von Risiken noch die Maßnahmenplanung leisten kann.
Digitale Lösungen stellen die notwendigen Informationen zeitgerecht zur Verfügung. Daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen und Entscheidungen zu fällen, liegt weiterhin in der  Verantwortung der Menschen.

 

Autor:innen

Sebastian Wellmann

Sebastian Wellmann ist Associate Director im Kölner Büro von INVERTO und leitet das Competence Center Industrial Goods & Automotive. Er berät überwiegend Kunden aus der Automobilbranche sowie dem Maschinen- und Anlagenbau.

sebastian.wellmann@inverto.com

Nele Heubeck

ist Consultant und am INVERTO Standort Köln tätig. Sie berät maßgeblich Unternehmen aus dem Maschinen- und Anlagenbau sowie der Automobilbranche und befasst sich mit der Digitalisierung des Risikomanagements.

nele.heubeck@inverto.com