Lieferketten regionalisieren

 

 

Warum in die Ferne schweifen?

Zuhause ist es auch schön. Diese Erkenntnis ist durch die Corona-Pandemie nicht nur im Tourismus aufgekommen, sondern auch bei vielen Einkäufer:innen und Supply Chain Managern. Eine komplette Re-Regionalisierung der Lieferkette wird häufig nicht möglich sein – doch Chancen zur Diversifizierung haben die meisten Unternehmen, die Schritte zurück zu regionalen Lieferanten umsetzen wollen.

Die Vorteile einer regional geprägten Lieferkette liegen auf der Hand: Innerhalb der Europäischen Union gibt es keine Handelshemmnisse, eine Reihe von Partnerländern teilt die gleiche Währung, einige gar den Sprach- oder Kulturraum. Die persönliche Zusammenarbeit lässt sich einfacher organisieren, je näher Lieferanten beheimatet sind. Es ist umweltschonender, Güter nicht um die halbe Welt zu verschicken und je kürzer der Transportweg, desto geringer ist die Gefahr von Störungen. Das wiederum ermöglicht eine höhere Flexibilität durch schnellere Lead Times und geringere Lagerhaltung.

Ein wesentlicher Faktor gab den Ausschlag dafür, dass sich die Beschaffung in den vergangenen 15 Jahren immer stärker nach Asien verlagerte: die Kosten. Die Produktion ist in Ostasien schlicht und einfach günstiger als in Europa. Anders als in den Anfangstagen der Globalisierung stimmt heute auch die Qualität, asiatische Anbieter sind auf die Erwartungen westlicher Kunden eingestellt, Transporte günstig und eingespielt.

Corona stellte binnen kurzer Zeit gewachsene Verbindungen in Frage

Doch die Corona-Pandemie stellte binnen weniger Wochen über Jahrzehnte gewachsene Strukturen in Frage. Gerade bei Lebensmitteln und Konsumgütern steckt „Made in China“ in vielen Produkten. Dass die Beschaffung in Ostasien immer schon günstiger war und zunehmend unkomplizierter wurde, führte jedoch dazu, dass für viele Vorprodukte mittlerweile kaum noch Fertigungsstätten in Europa vorhanden sind. Der Kontinent hat damit viel Know-how und Wertschöpfung aus der Hand gegeben, die im Zuge fortschreitender Globalisierung nicht mehr für notwendig gehalten wurde.

Auch Konsument:innen interessierten sich lange nicht dafür, wo und unter welchen Bedingungen Produkte gefertigt wurden. Angesichts von Klimawandel, Umweltzerstörung und Berichten von ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen hat inzwischen ein Wandel in der Wahrnehmung eingesetzt: Zwar gibt es immer noch viele Bürger, für die – sicher nicht immer freiwillig – der Preis das wichtigste Kaufkriterium ist. Darüber hinaus ist für den Kunden nicht immer transparent woher Zutaten oder Vorprodukte stammen. Doch ein wachsender Teil der Verbraucher:innen legt Wert auf nachhaltig und fair produzierte Waren.

In den vergangenen Jahren gab es angesichts zunehmender Handelskonflikte und der immer lauter werdenden Rufe, den Klimawandel ernst zu nehmen, erste Diskussionen, ob man nicht zumindest Teile der Produktion wieder nach Europa zurückholen sollte. Die Corona-Pandemie hat diesem Bewusstseinswandel zusätzlichen Schub gegeben. Deswegen suchen nicht wenige Einkäufer:innen und Supply Chain Manager jetzt nach echten Lösungen.

Die persönliche Zusammenarbeit lässt sich einfacher organisieren, je näher Lieferanten beheimatet sind.

In einigen Bereichen ist die Re-Regionalisierung schwierig

Elektronik

Vom Chip bis zur Batteriezelle werden derzeit die Basismaterialien für Elektrogeräte nicht in Europa gefertigt. Die EU will hier Abhilfe schaffen, doch bis eine Produktion aufgebaut ist, wird es noch einige Jahre dauern. So überrascht es nicht, dass auch Geräte wie Smartphones, Computer, Spielekonsolen oder Fernseher, in denen diese Materialien verbaut werden, in der Regel nicht aus Europa kommen.

Lebensmittel

In Europa gibt es kaum noch Kapazitäten zum Gefriertrocknen. So wird Obst zum Gefriertrocknen nach China geschickt und dann in Europa unter Frühstücksflocken gemischt. Handelt es sich hierbei um ein Crunchy-Müsli, so gilt das auch für die mit Honig gebackenen Flocken.

Körperpflege

Die einzelnen Bestandteile für DuschgelsBadeschäume und Shampoos werden in Fernost produziert, dann in Europa zum fertigen Produkt vermengt und abgefüllt.

Konsumgüter

Auch Wasch- und Putzmittel werden in dieser Arbeitsteilung hergestellt: Wirkstoffe aus Asien, Mischung in Europa. 80 Prozent aller in Europa getragenen Schuhe werden in China und anderen asiatischen Ländern gefertigt, auch ein enormer Anteil unserer Kleidung kommt von dort. Fahrräder und andere Sportgeräte werden zwar oft in Europa designt und zusammengebaut, aber auch hier kommen die Komponenten aus Ostasien.

Fehlende Produktionskapazitäten und höhere Kosten in Europa

Dagegen spricht jedoch der Mangel von Produktionskapazitäten in Europa. Unternehmen, die es mit der Re-Regionalisierung der eigenen Lieferkette ernst meinen, müssen in vielen Fällen den Aufbau von Fertigungsstätten zunächst einmal unterstützen, bevor sie in größerem Maßstab auf dem eigenen Kontinent beschaffen können.

Zu den eingangs genannten Vorteilen einer regionalen Lieferbeziehung kommt die Tatsache, dass eine Steigerung der europäischen Produktion die europäische Wertschöpfung intensiviert und entsprechend neue Arbeitsplätze geschaffen. Gerade in der aktuellen Rezession, die möglicherweise noch viele Arbeitsplätze vernichten wird, könnte die Re-Regionalisierung von Lieferketten also Perspektiven schaffen.

Von der Hand zu weisen ist indes nicht, dass Fertigung in Europa zwar qualitativ hochwertige Produkte schafft, jedoch in der Regel teurer ist als in Asien – folglich sind in Europa gefertigte Waren meist teurer. Das wird sich nicht jede:r Konsument:in leisten können oder wollen. Daher wird „Made in China“ auch weiterhin ein integraler Bestandteil der Lieferketten vieler Unternehmen bleiben.

Um einen höheren Preis zu begründen, sollten Unternehmen konsequent Transparenz auch für die Konsumenten schaffen: Heute ist es zum Beispiel nicht verpflichtend, bei verarbeiteten Lebensmitteln die Herkunft der einzelnen Bestandteile oder Vorprodukte zu deklarieren. Folglich wissen die Käufer:innen nicht, dass etwa im Müsli die Mandeln aus Kalifornien stammen, der Honig aus Chile und die getrockneten Erdbeeren aus China. Dennoch kann auf dem Produkt „Made in Germany“ ausgelobt werden. Wer einen Mehrpreis für regionale Produkte verlangen möchte, muss dieses Bewusstsein erst einmal schaffen. Dass es funktioniert, zeigt der Erfolg von regional produziertem Obst und Gemüse, zu dem im Supermarkt mittlerweile viele Kunden greifen.

So gelingt die Rückkehr

Unternehmen, die ihre Lieferkette diversifizieren und regional beschaffen wollen, fangen mit einer Marktsondierung an: Welche Vorprodukte lassen sich in Europa beschaffen oder produzieren? Welche Kapazitäten sind vorhanden? Gibt es bislang zugekaufte Komponenten, für die sich der Aufbau einer eigenen Produktion lohnt (Make-or-Buy-Analyse)?

Ist eine regionale Produktion vorhanden, bietet sich eine strategische Partnerschaft an, um mit dem Lieferanten gemeinsam Qualitätsstandards und Innovationen zu entwickeln. Zugleich gibt die Verbindung dem Anbieter Sicherheit, um seinerseits zu investieren und bei Bedarf die Produktion zu erweitern.

Um eine Produktion überhaupt erst aufzubauen, bietet sich eine Kooperation mit Hochschulen und anderen wissenschaftlichen Institutionen an. Sie können die Kompetenzen aufbauen, die für den Wiederaufbau verloren gegangenen oder noch gar nicht entwickelten Know-hows erforderlich sind.

Für einzelne Vorprodukte können auch Einkaufskooperationen mit Unternehmen, die ähnliche Bedarfe haben, eine sinnvolle Maßnahme sein. Sie würden aufstrebenden europäischen Unternehmer:innen und Investoren Umsatzmöglichkeiten schaffen und den Aufbau neuer oder weiterer Kapazitäten rechtfertigen.

 

FAZIT

Das Ziel einer Regionalisierung von Lieferketten kann keine gezielte Abkehr vom Erfolgsmodell Globalisierung sein. Vielmehr geht es für Unternehmen darum, durch die teilweise regionale Beschaffung die eigene Supply Chain zu diversifizieren – einerseits, um im Krisenfall handlungsfähig zu bleiben, andererseits um den eigenen ökologischen Fußabdruck zu verringern und regional Chancen für innovative neue Unternehmen zu eröffnen. Wenn dies gelingt, wäre das nicht das Ende der internationalen Arbeitsteilung, sondern ein neues Kapitel.

Autoren

Rudolf Trettenbrein

ist Geschäftsführer von INVERTO in Wien und berät Kunden bei der Re-regionalisierung der Lieferketten, der Kostenoptimierung im Einkauf sowie im Supply Chain Management. Er verfügt über umfangreiche Erfahrung im Handel und in der Konsumgüterbranche auf dem europäischen und internationalen Markt.

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