Sinkende CO2-Preise: „Das gefährdet die europäische Klimawende“
Wenn der CO2-Preis so niedrig bleibt, verlieren Unternehmen einen Anreiz für klimafreundliche Investitionen. RWE-Chef Markus Krebber warnt vor den Folgen. Erste Politiker fordern einen Mindestpreis.
Brüssel, Düsseldorf. Seit Anfang des Jahres fallen die CO₂-Preise. Zwischenzeitlich betrug das Minus sogar mehr als 40 Prozent. Aktuell hat sich der Kurs bei 70 Euro pro Tonne CO₂ eingependelt. Dabei sollten die Zertifikate für das klimaschädliche Treibhausgas eigentlich gar nicht mehr günstiger werden, sondern nur noch teurer. So der Plan der Europäischen Union.
Die Abwärtsspirale bei den Preisen gefährde die europäische Klimawende, kritisiert daher nun RWE-Chef Markus Krebber. „Seit Jahresbeginn ist es zu einem erheblichen Preisverfall gekommen, weil die Europäische Union Zusatzauktionen vorgezogen hat, um 20 Milliarden Euro für den europäischen Haushalt zu erwirtschaften“, sagt der Manager des Essener Energiekonzerns dem Handelsblatt.
So zerstöre die EU das Vertrauen in das Instrument. Weil das Emissionshandelssystem das „Kernstück der europäischen Klimapolitik“ sei, müsse es aber funktionieren.
CO₂-Zertifikate zum Schnäppchenpreis
Das europäische Emissionshandelssystem, kurz EHS, erfasst die Emissionen der Energiewirtschaft, der energieintensiven Industrie und des innereuropäischen Luft- und Seeverkehrs. Ab 2027 sollen auch Verkehr- und Gebäudesektor einen eigenen Emissionshandel bekommen.
Eine Obergrenze legt innerhalb dieses Systems fest, wie viele Treibhausgasemissionen ausgestoßen werden dürfen. Die Mitgliedstaaten geben dann eine entsprechende Menge an Zertifikaten aus – teilweise kostenlos, teilweise über Versteigerungen. Über die Jahre wird die Menge der Zertifikate, die sich im Umlauf befinden, immer weiter reduziert. Der Preis steigt somit und soll bei den Unternehmen einen Anreiz setzen, ihre Treibhausgasemissionen zu reduzieren.
Bis vor einigen Monaten hat das Instrument auch gut funktioniert, erklärt Expertin Julia Breuing vom Marktforschungsunternehmen Aurora Research im Gespräch mit dem Handelsblatt. „Im Moment ist das Angebot allerdings höher als die Nachfrage – auch weil die Europäische Union im Rahmen von Repower EU beschlossen hat, Zertifikate, die erst Richtung 2030 ausgegeben werden sollten, jetzt schon auf den Markt zu bringen.
Das Programm Repower EU wurde nach dem Ausbruch des Ukrainekriegs aufgelegt. Das Geld, das in den zugehörigen Fonds fließt, soll dazu genutzt werden, die Auswirkungen des Krieges auf EU-Staaten abzumildern und die Abhängigkeit von russischem Gas zu reduzieren. Daher wird das Geld auch für den Ausbau der erneuerbaren Energien eingesetzt.
Das Programm entlaste einerseits Unternehmen, weil der CO₂-Preis nicht zu hoch steigt. „Auf der anderen Seite aber gefährdet es wichtige Projekte“, so Breuing. Denn bei einem Preis von 50 bis 60 Euro pro Tonne, wie er noch bis vor einer Woche im Handel zu beobachten war, habe die Industrie keinen Anreiz, in die Dekarbonisierung zu investieren.
„Wenn sich Unternehmen langfristig absichern möchten, die Preissetzung dann aber sehr volatil ist, ist das durchaus problematisch“, kritisiert auch Stefan Benett, Chef der Einkaufsberatung Inverto, im Gespräch mit dem Handelsblatt. Die Agentur berät Unternehmen beim Einkauf, unter anderem von CO₂-Zertifikaten. Ein niedrigerer CO₂-Preis könnte zur Neubewertung von klimafreundlichen Projekten in der Industrie führen, fürchtet Benett. Hier brauche es stattdessen Investitionssicherheit.
Mindestpreis von 120 Euro bis 2030
Auch in Brüssel beobachtet man die aktuelle Situation mit Sorge. „Es braucht sofort Abhilfe“, sagt der Europaabgeordnete Michael Bloss (Grüne). Ohne ein Erneutes Einschreiten der EU-Kommission entwickele sich der Emissionshandel zu einem Unsicherheitsfaktor. Wenn die Preise fielen, werde nicht in die Modernisierung der Industrie investiert, fürchtet auch Bloss.
Der Politiker spricht sich daher für einen ansteigenden CO₂-Mindestpreis aus. Bis 2030 solle er 120 Euro betragen. Außerdem hält er eine Verzögerung der Versteigerungen von Repower-EU-Zertifikaten für sinnvoll. „Es muss schnell reagiert werden“, sagt Bloss, „um Europas wichtigstes Instrument für die Modernisierung der Industrie zu schützen.“
Anders sieht das Europaabgeordneter Tiemo Wölken von der SPD. Der aktuelle Preisverfall sei ein Ausdruck von kurzfristigen Effekten der aktuell schwachen Konjunktur sowie des voranschreitenden Ausbaus der erneuerbaren Energien in Europa. Langfristig zeigten die Prognosen jedoch deutlich nach oben, findet Wölken. Grund dafür seien Maßnahmen, die die EU bereits ergriffen habe.
Dazu gehört unter anderem, dass die ausgegebenen Zertifikate jedes Jahr um 4,2 Prozent anstatt der bisherigen 2,2 Prozent reduziert werden sollen. Außerdem werden im laufenden Jahr außerplanmäßig 90 Millionen Zertifikate aus dem Markt genommen und im Jahr 2026 noch einmal 27 Millionen Zertifikate. Das reduziert das Angebot und erhöht den Preis.
Zudem plant die Kommission, die Ausgabe von Gratiszertifikaten neu zu ordnen. Einige Betriebe bekämen deutlich weniger kostenlose Zertifikate zugeteilt, so der Plan, dadurch würde die Nachfrage auf dem freien Markt steigen. Für Bloss reichen diese Schritte in der Zukunft nicht aus. Die Misere auf dem CO₂-Markt müsse jetzt beendet werden.
SPD-Europapolitiker Wölken sieht im aktuellen Preisverfall auch eine Normalisierung. Nach dem Ende der Verhandlungen zum EHS seien Ende 2022 in Erwartung dieser Änderungen die Preise nur kurzfristig hochgeschossen.
Sollte die Situation allerdings weiterhin anhalten, wendet Wölken ein, müsse die Kommission erwägen, mehr Zertifikate aus dem Markt in die Marktstabilitätsreserve aufzunehmen und permanent zu annullieren. Die Marktstabilitätsreserve überträgt Zertifikate aus dem Umlauf wieder in die Reserve, wenn diese einen gewissen Grenzwert überschreiten. So soll die Anzahl der insgesamt im Umlauf befindlichen Zertifikate wieder verknappt werden.
Die EU müsse jetzt den Glauben an steigende Preise wiederherstellen, fordert Aurora-Expertin Breuing: „Wichtig ist, dass Unternehmen steigende Preise bei ihren Investitionsentscheidungen einpreisen können, und das können sie nur begrenzt, wenn ihnen in einem politisch geschaffenen Markt keine Sicherheit gegeben wird.“
Das betont auch RWE-Chef Krebber. Er hält Preisgrenzen aber für den falschen Weg. „Es braucht keinen Mindestpreis, aber man sollte auch nicht einfach mehr Zertifikate auf den Markt werfen durch Zusatzauktionen, das zerstört das Vertrauen in dieses Instrument.“
Unabhängig von den diskutierten Maßnahmen rechnen Expertinnen und Experten damit, dass der CO₂-Preis bis 2030 zwischen 100 und 190 Euro pro Tonne liegen dürfte. Wer jetzt nicht investiert, für den wird es in ein paar Jahren also in jedem Fall deutlich teurer.
Quelle: Handelsblatt vom 17.04.2024
Autoren: Kathrin Witsch, Olga Scheer
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